27
Leb wohl, Miss Rheingold
Gegen Mitternacht stecke ich den Schlüssel in das Schloss von Helens Eingangstür und schleiche auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Da liegt Pulkowski in seinem Fernsehsessel und starrt ins Leere. Ich setze mich einfach ihm gegenüber auf das abgeschabte alte Sofa, das Helen nie austauschen wollte.
»Daddy?«, flüstere ich. Er bewegt sich, als erwache er aus einer Trance.
»Ach, Kindchen«, sagt er, beugt sich dann vor und drückt mich fest an sich.
»Ich bin ja da«, flüstere ich.
»Es ist so spät«, sagt er. »Deine Mutter hätte sich sicher Sorgen gemacht.«
Mickey kommt mit einer Tasse Tee herein, während ich in Daddys nach Waschmittel duftendes Hemd schluchze. Er stellt sie neben Pulkowski auf Helens Tablett ab. Sein Haar ist zerwühlt, und er sieht müde aus, aber sein Gesicht ist das Wundervollste, was ich seit Tagen gesehen habe. Er zieht mich in seine Arme und drückt mich fest an sich.
»Rosie«, haucht er in mein Haar. »Da bist du ja endlich.« Er hält mich wie ein Mann, der mich vielleicht liebt, aber wer weiß? Er ist ein guter Mann. Das kann nur an Helens Tod liegen.
Wir alle schlafen mehr schlecht als recht irgendwo im Wohnzimmer. Pulkowski bleibt in seinem Fernsehsessel, den er zurückklappt wie den Behandlungsstuhl beim Zahnarzt. Er döst mit offenem Mund, als warte er tatsächlich auf den Zahnarzt oder auf einen letzten Kuss von Helen. Als sein Atem regelmäßig wird, kuschele ich mich auf dem kratzigen Sofa an Mickeys Brust zusammen und schlafe dort.
Am nächsten Morgen frühstücken wir in einem Zustand der Benommenheit. Mickey bereitet Pulkowski Toast zu, und ich sitze neben ihm und halte seine Hand. Helen scheint bei uns zu sein, scheint im Dampf unseres Kaffees zu schweben und mit der Lautstärke des Fernsehers herumzuspielen. Wir können sie spüren, aber nicht sehen. Das lässt uns alle schweigen.
Nach dem Frühstück machen Mickey und ich uns mit einer Kleidertüte, die wir mit Pulkowski gepackt haben, auf den Weg zu McClains Beerdigungsunternehmen. Wir sitzen in einem kleinen Büro mit weinroter Velourstapete, zwischen uns und dem Leiter des Beerdigungsunternehmens steht ein schwerer dunkler Holzschreibtisch. Beim Anblick des Kleides, das Pulkowski für Helens Beerdigung ausgesucht hat, zieht selbst der alte Frank McClain eine Augenbraue hoch. Vermutlich hat er seit 1959 kein perlenbesticktes weißes Hemdblusenkleid mit weit schwingendem Rock mehr gesehen. Aber Helen hat ihr offizielles Tanzkleid im Bowling-League-Stil geliebt, genauso wie Pulkowski. Ich reiche es dem Leiter zusammen mit Helens Perlenkette. In der Papier-tüte auf meinem Schoß habe ich außerdem ihren roten Lippenstift, den Nagellack und ihr Parfüm »Evening in Paris«.
»Sie wollen also, dass wir Mrs Pulkowski mit diesen Sachen ausstatten?«, fragt er taktvoll. Und ob, denke ich. Sie bahren schließlich eine Frau auf, die Miss Rheingold hätte sein können.
»Ja, bitte«, erwidert Mickey und geleitet mich dann am Ellbogen aus dem Beerdigungsunternehmen.
Auf dem Heimweg schluchze ich lautlos. Mickey drückt meine Hand, doch daraufhin weine ich nur lauter und hemmungsloser. Ich trommele mit den Fäusten auf das Armaturenbrett seines Wagens, und all die Wut und die Trauer, die ich Pulkowski zuliebe zurückgehalten habe, quellen aus mir heraus. »Verdammt und zugenäht!«, schluchze ich. »Das ist typisch Helen. Hat sie das getan, weil ich mich auf die Suche nach Johnny Bellusa gemacht habe?«
»Spinn nicht rum«, sagt Mickey und biegt dann auf den Parkplatz des SaveWay-Konkurrenten King Kullen ein. Er verlässt die Straße so bedachtsam, dass es mir vorkommt, als habe er mit meinem Zusammenbruch gerechnet. Wir fahren auf einen Platz am Ende einer Reihe, und Mickey reicht mir ein weißes Stofftaschentuch, etwas, was selbst ein doppelt so alter Mann heutzutage in der Regel nicht mehr bei sich trägt. Ich putze mir die Nase, kann aber nicht aufhören zu weinen.
»Habe ich sie verletzt?«, frage ich und schnäuze mich ein zweites Mal. »Hat sie etwa gedacht, ich bräuchte sie nicht mehr, nur weil ich mich auf die Suche nach meinen Eltern gemacht habe?«
Mickey nimmt mein Kinn in die Hand und dreht mein Gesicht zu sich. »Rosie«, sagt er. »Du hast sie nicht umgebracht. Sie ist einfach gestorben.«
»Was weißt denn du!«, schniefe ich und entziehe ihm mein Gesicht. »Du kanntest doch Helen nicht so gut wie ich! Sie würde alles tun, um im Mittelpunkt zu stehen …«
»… zum Beispiel einen Umweg von zwanzig Meilen auf sich nehmen, um ihren Schweinebraten zu kaufen und einen Freund für ihre Rosie zu finden? Ich glaube, ich kannte Helen.«
»Sie hat dich nicht gequält, wie sie mich gequält hat.«
»Sie hat dich geliebt, Rosie.«
Die Art, wie er das sagt, lässt mich verstummen. In seiner Stimme liegt eine Überzeugung, die man nur hat, wenn man etwas wirklich weiß.
»Und du hast sie geliebt«, schließt er.
Ich bin sprachlos.
Könnte die Wahrheit so einfach sein? Können zwei Menschen sich bekämpfen, schmollen, versuchen, einander zu gefallen, wichtige Informationen zurückhalten, einander verletzen, weglaufen, zu viel essen oder zu wenig essen und all das im Grunde nur, weil sie sich lieben?
Es scheint so.
Wie dumm und sinnlos mir dieses Ringen plötzlich vorkommt.
»Sie ist an einem Herzinfarkt gestorben. Vermutlich lag es am Rauchen. Nicht an dir.«
Mein Atem geht jetzt langsamer. Ich kann spüren, wie verquollen meine Augen sind. »Wusste sie, dass ich auf der Suche nach meinem Vater war?«
Er sieht in seinen Schoß, bevor er antwortet. »Ich habe es ihr gesagt. Sie hat auf der Suche nach dir im Geschäft angerufen, während du weg warst. Also habe ich ihr die Wahrheit gesagt.«
»Du verstehst meine Familie nicht wirklich, oder?«, bemerke ich. »Von denen sagt nie jemand die Wahrheit.«
»Sie hat dir die Wahrheit aus Liebe vorenthalten. Das war vielleicht ein Fehler, aber sie hat es gut gemeint.«
»Das können wir auf ihren Grabstein schreiben«, sage ich. »SIE HAT ALLE BELOGEN, ABER SIE HAT ES GUT GEMEINT.«
Und wieder ertappe ich mich dabei, dass ich weine. Diesmal fühlt es sich an wie eine riesengroße Erleichterung, nach diesem Spruch, der vielleicht ein guter Witz ist. Aber vielleicht ist das Leben ein guter Witz. Ich schluchze lauter.
»Komm her, Rosie«, sagt Mickey. Er nimmt mich in die Arme, und ich atme den Geruch seiner Haut und die Wärme seiner Brust tief ein. Wir bleiben lange so sitzen, vielleicht kommt es mir aber auch nur lange vor. Er hält mich fest und wiegt mich. Er hält mich und wiegt mich.
Es kommt, wie es kommen muss, und ich schlafe ein. Wir sitzen noch immer in seinem Wagen auf dem Parkplatz des King Kullen, als ich aufwache. Doch meine Augen öffnen sich und es fühlt sich an, als sähen sie eine frische, neue Welt. Eine Welt, zu der Helen nicht länger gehört, in der Ham ihr nicht länger den besten Schweinebraten mit Knochen zurücklegen muss. Mickey und ich sitzen in seinem Wagen, doch einige Meilen entfernt zieht ein Beerdigungsunternehmer Helen gerade ihr Ballkleid an. Eine Stadt weiter trauert Pulkowski in seinem Liegesessel. Zwei Bundesstaaten weiter schlägt ein Mann namens Johnny Bellusa Nägel ein und denkt über seine Tochter nach, die er gerade kennengelernt hat.
Und ich sitze neben einem Mann namens Ham. Auch das fällt mir auf und die Tatsache, wie sicher ich mich im Führerhaus seines Trucks fühle, während ich seine blöden Koteletten betrachte. Eine strahlende Sonne scheint auf die Einkaufswagen aus Chrom, und der leuchtend blaue Himmel spannt sich über uns wie ein Regenschirm. Ich drehe mich um und sehe Mickey an, und auch wenn der Zeitpunkt der Falsche ist und Mr McClain vielleicht gerade Lippenstift auf die toten Lippen meiner Großmutter aufträgt, muss ich ihm sagen, was ich entdeckt habe.
»Mickey«, sage ich, »mir ist etwas klar geworden während meines kleinen Ausflugs.«
Mickey sieht müde aus. An seinem Kinn glänzen goldene Bartstoppeln. »Was denn, Rosie?«, fragt er und klingt wie jemand, der mit einem überdrehten, übermüdeten Kind spricht, das neben ihm im Truck sitzt.
»Mickey.« Ich setze mich auf und sehe ihn an. »Wie es aussieht, haben wir nicht irgendetwas miteinander.«
Auf seinem Gesicht zeigt sich ein besorgter Ausdruck.
»Nein, warte. Ich hab das falsch formuliert.« Ich reibe mir mit den Fäusten die Augen, und meine Hände sind danach voller Wimperntusche. »Ich meine«, erkläre ich, »dass ich nicht nur mit dir schlafe, weil es sich gut anfühlt, mit einem netten Typen zu schlafen, nachdem sich herausgestellt hat, dass der eigene Mann ein Potz ist.«
»Ein Potz?«
»Das ist Helens Bezeichnung. Aber hier geht es nicht um Teddy. Sondern um dich. Um uns.« Ich drücke seine Hand. Mickey sieht verwirrt aus. Er betrachtet mich und sieht ohne Zweifel eine Art durchgeknallten Waschbär vor sich, bei all der Wimperntusche um meine Augen. Aber das ist nicht wichtig. Ich bin sein Waschbär, falls er mich will. Nichts hält mich jetzt noch davon ab, ihm zu sagen, was ich weiß.
»Als ich da hinauf zu Johnny Bellusa gefahren bin, habe ich dich so sehr vermisst, dass mein Magen geschmerzt hat. Ich bin an zehn Dunkin’ Donuts vorbeigefahren, ohne einen einzigen Doughnut zu kaufen. Nicht mal einen winzigen! Da habe ich erkannt, dass ich nicht nur was mit dir habe. Man bringt ohne Probleme einen Krapfen hinunter, wenn man einfach nur mit einem Kerl schläft, der einem nichts bedeutet. Aber du bedeutest mir etwas.« Ich sehe ihn direkt an. »Du hast mich doughnutlos gemacht.« Wieder drücke ich seine Hand. »Das hast du mit mir gemacht, Mickey Hamilton. Irgendwo zwischen der Bourne Bridge und Falmouth habe ich erkannt, dass ich einen Metzger liebe.«
Ich küsse ihn fest auf den Mund. »Wir haben eine echte Beziehung, Mickey!«, sage ich und schnappe nach Luft. »Ist das nicht großartig?«
Mickey antwortet nicht. Und er wirkt auch ganz eindeutig nicht, als ob er hin und weg wäre. Er sieht eher aus wie jemand, der von seinen Steuerformularen verwirrt ist.
»Wir haben eine echte Beziehung, Mickey!«, wiederhole ich.
Wieder warte ich auf eine Reaktion von ihm, bete darum, dass er mich in die Arme nimmt und Heureka! oder Verdammt! oder Es wurde auch langsam Zeit, dass dir das klar wird, du verrücktes Huhn! ruft. Aber nein, nichts Dergleichen. Er scheint über etwas nachzudenken, etwas abzuwägen.
»Rosie«, sagt er schließlich und atmet seine Entscheidung durch Mund und Nase aus. »Ich habe damit gewartet, dir etwas zu sagen, und ich will, dass du es genau jetzt erfährst.«
Ich halte mich, plötzlich hellwach, am Armaturenbrett fest. Ich habe damit gewartet, dir etwas zu sagen? Wann hat ein Mann je solche Worte benutzt, ohne einem mit dem nächsten Satz das Herz zu brechen?
»Bitte«, flehe ich, und meine Fingernägel hinterlassen tiefe Eindrücke in dem gepolsterten Armaturenbrett. »Sag’s mir nicht jetzt. Lieber an einem anderen Tag. Mir reicht es für heute, mit dem Besuch beim Beerdigungsunternehmen und allem.«
Mickey scheint gar nicht zuzuhören. Er setzt aus unserer Parklücke vor dem King Kullen zurück. »Schnall dich wieder an«, sagt er. »Ich zeig dir etwas.«